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Christlicher Fundamentalismus versus Frauenrechte

 

Vortrag an der Tagung "Fundamentalismus versus Frauenrechte" des Schweizerischen Verbands für Frauenrechte svf-adf am 8. Juni 2013 in Basel, leicht überarbeitete Fassung

 

Weltweit sind Fundamentalisten auf dem Vormarsch und versuchen, ihre religiösen Vorstellungen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. Dabei haben sie vor allem die Frauen im Visier, deren Rechte und sexuelle Selbstbestimmung sie beschneiden wollen. So versuchen US-amerikanische fundamentalistische Kreise seit der Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 und deren Nachfolgekonferenzen die reproduktiven Rechte der Frauen sowie ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu bekämpfen und Frauenrechte zurückzuschrauben. Tatkräftige Unterstützung erfahren sie dabei vom Vatikan, der als einzige Weltreligion bei den Vereinten Nationen einen Beobachterstatus innehat, sowie von einigen islamischen Staaten. Auch wenn die katholische Kirche im klassischen Verständnis nicht als fundamentalistische Organisation gilt, so vertritt auch sie eine sehr rigide Politik gegen Frauenrechte, beispielsweise in Bezug auf die Abtreibungsgesetzgebung, und hat in europäischen Ländern wie Polen, Irland und der Slowakei sehr viel Einfluss. Auch auf Ebene der EU versuchen religiöse Fundamentalisten durch Lobbygruppen Kampagnen gegen Frauenrechte zu starten (Brantner 6-9). Und in der Schweiz streben konservative christliche Kreise mit ihrer Initiative "Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache" letztlich wohl einen Gesinnungswandel in der Abtreibungsfrage an. In diese Richtung äusserte sich jedenfalls Walter Müller, Informationsbeauftragter der Schweizer Bischofskonferenz, in einem Interview in der Basellandschaftlichen Zeitung vom letzten Dezember, wenn er meinte, die Initiative zur Abtreibungsfinanzierung greife zu kurz. Es gehe darum, in der Abtreibungsfrage einen Wandel in der Bevölkerung herbeizuführen: "Die Abtreibung soll keine Option mehr sein." (BLZ 6.12.12)

Diese Entwicklungen zeigen: "Wo sich Fundamentalismus breit macht, steht es schlecht um die Rechte von Frauen", wie es im Programmflyer der Tagung "Fundamentalismus versus Frauenrechte" heisst.

 

Der Begriff "Fundamentalismus" stammt aus dem Christentum und wurde später dann auch auf andere Religionen übertragen

Wenn von Fundamentalismus und Frauenrechten die Rede ist, dann denken heutzutage die meisten sofort an die Ayatollahs im Iran oder an den Wahabismus in Saudi-Arabien und an die Unterdrückung der Frauen dort. Der Islam gilt im Westen als eine Religion, die besonders anfällig ist für Fundamentalismus. Doch Fundamentalismus ist keine islamische, sondern ursprünglich eine christliche "Erfindung", und seine Verbreitung nimmt gegenwärtig in den USA sowie in Afrika, Asien und Lateinamerika zu.

Der Begriff geht auf eine protestantische Bewegung in den USA zurück, die anfangs des 20. Jahrhunderts eine Schriftenreihe namens The Fundamentals herausgab. Ihr Ziel war es, sog. modernistische Tendenzen in den protestantischen Kirchen zu bekämpfen, wie etwa die liberale Theologie, die ein historisch-kritisches Verständnis von Bibeltexten entwickelt hatte. Gegen diese liberalen Irrlehren sollten die fundamentals, ein Fundament von unumstösslichen biblischen Wahrheiten festgehalten werden. Die Fundamentalisten vertreten eine wortwörtliche Bibelinterpretation und lehnen die von der liberalen Theologie entwickelte historische Bibelkritik als Angriff auf den christlichen Glauben ab. Die Bibel gilt ihnen als verbal inspiriertes Wort Gottes, das klare Antworten für die Fragen des Alltags und einen ewigen Moralkodex liefert. Auch die christlichen Dogmen sind für Fundamentalisten kein Ergebnis theologischer Reflexionen, sondern geoffenbarte Tatsachen. Die Heilige Schrift ist in ihren Augen irrtumslos: sowohl in religiösen wie auch in historischen und biologischen Aussagen. So beharren sie auf der biblischen Schöpfungslehre, wonach der Schöpfergott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, wie es das Buch Genesis erzählt. Bis heute wollen christliche Fundamentalisten in den USA verhindern, dass Darwins Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen gelehrt wird.

Die damaligen Gründer der fundamentalistischen Bewegung machten den Abfall vom Glauben aber auch für den Niedergang der öffentlichen Moral verantwortlich, den sie mit Phänomenen wie Prostitution, Alkoholkonsum, aber auch mit der Emanzipation der Frau identifizierten. In den späten 1980er Jahren wurde der Fundamentalismus im gesellschaftlichen Kontext der "Moral Majority" und der Bush-Ära in den USA wieder belebt und hat vor allem unter Letzterem immer mehr Einfluss auf die US-Politik gewonnen. Einig waren und sind sich die verschiedenen fundamentalistischen Gruppen in ihrer Ablehnung von Abtreibung, Ehebruch, Homo-Ehe, Drogenkonsum und Feminismus und dem Kampf für eine christliche Nation, der USA als Land Gottes.

Häufig werden in der Diskussion Fundamentalismus und Evangelikalismus gleichgesetzt, denn beide Strömungen zeichnen sich durch einen strengen Biblizismus, durch konservative Familienwerte und eine rigide Sexualmoral aus. Doch der Evangelikalismus, der sehr unterschiedliche Strömungen, unter anderem auch charismatische umfasst und weltweit auf dem Vormarsch ist, ist meist weniger stark auf eine Absonderung von der Welt aus als der Fundamentalismus. Letzterer besteht auf strengster Abgrenzung und hat z.B. in den USA Parallelstrukturen zur säkularen Gesellschaft aufgebaut wie Schulen, Universitäten, Radio- und TV-Sender, Verlage und Zeitschriften. Denn niemand soll in der Welt des verabscheuten "säkularen Humanismus" leben müssen, wo die Seele Schaden nehmen könnte (Armstrong 307-310).

In der Schweiz gibt es kaum verlässliche Zahlen zu den Evangelikalen. Es wird geschätzt, dass 4 % der Bevölkerung dem Evangelikalismus zuzurechnen sind (ca. 250'000) und die Zahl in den letzten Jahren gewachsen ist. Unter den Evangelikalen der Schweiz sind ein Drittel Charismatiker, die die Geistgaben betonen (z.B. Schweizerische Pfingstmission), rund die Hälfte werden zu den Moderaten gezählt (ältere Freikirchen wie die Methodisten, die Freien Evangelischen Gemeinden etc.) und ca. 10 bis 13 % der Evangelikalen gelten als Fundamentalisten, z.B. Action biblique und Darbysten (Baumann/Stolz 131f.) – also eine verschwindende Minderheit.

 

Der christliche Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts ist kein Rückfall ins Mittelalter, sondern ein Produkt der Moderne selbst

FundamentalismusforscherInnen wie Karen Armstrong und Martin Riesebrodt sind sich einig: Der christliche Fundamentalismus hat sich ursprünglich als eine Reaktion auf die Moderne gebildet, ist also ein spezifisches Phänomen der Moderne selbst: nämlich eine soziale und kulturelle Reaktion auf die Unsicherheiten, Ängste und Konflikte, die mit "Modernisierungsprozessen" verbunden sind und als Krise erfahren wurden. Säkularisierung und Modernisierung führten zu massiven Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, aber auch des religiösen Weltbildes: Religiöse Wahrheiten wurden in Frage gestellt, traditionelle Familienstrukturen aufgeweicht, Wissenschaft und Technik brachten nicht nur Fortschritt, sondern auch neue Risiken und Gefahren mit sich, und der Kapitalismus lieferte die Menschen der Unberechenbarkeit des Marktes aus. Dies hat bei vielen Menschen Angst, Ungewissheit und auch Sinnkrisen ausgelöst und das Bedürfnis nach sicheren religiösen Fundamenten geweckt. Der religiöse Fundamentalismus bot sich damals und bietet sich heute als Lösung der Krisen an, die im Prozess der Modernisierung bzw. der Globalisierung aufbrechen, und er verspricht, diese durch die Rückkehr zu den Fundamenten der Religion zu überwinden. Er stellt so gesehen die zur Moderne gehörende Kehr- und Schattenseite dar – eine Protestbewegung gegen die als gottlos erlebte säkularisierte Welt.

Christliche Fundamentalisten und Evangelikale vertreten denn meist auch einen selektiven Antimodernismus, d.h. sie lehnen die Moderne nicht völlig ab, sondern nur Teile von ihr. So haben sie kaum ein Problem damit, sich der modernen Techniken und Medien zu bedienen. Im Gegenteil. Sie sind geradezu Meister in der Kunst, ihre Botschaft "modern" zu verpacken: mit Popmusik, Lichtshows, Theater, Multimedia usw. Als Zerfallserscheinungen der Moderne kritisieren sie hingegen den Zusammenbruch der traditionellen Moral, insbesondere der Sexualmoral und der patriarchalen Geschlechterordnung.

Das fundamentalistische Geschichtsbild ist zutiefst dualistisch: Die moderne Gesellschaft wird bekämpft als Abfall von der göttlichen Ordnung. Dem modernen Geschichtsbild von Aufklärung, Fortschritt, Wachstum und menschlicher Autonomie wird eine heilsgeschichtliche Sicht entgegengestellt, in dem die Geschichte als Abfall vom göttlichen Gesetz erscheint. Der Fundamentalismus orientiert sich am Mythos eines "Goldenen Zeitalters". Die Anfänge der Religion werden als heile Welt und als ursprünglicher Zustand der Reinheit beschworen, die es zu restaurieren gilt. Überzeugt von der Richtigkeit ihrer Weltsicht und Zeitdiagnose entwickeln fundamentalistische Gruppen ein starkes Erwählungsbewusstsein und sehen sich in einem endzeitlichen Kampf zwischen den göttlichen und satanischen Mächten. Absonderung ist daher für Fundamentalisten zentral: Es wird eine strikte Grenze gezogen zwischen der bösen, vom Satan verführten Welt und der eigenen Gemeinschaft. In der Regel herrscht daher in fundamentalistischen Kreisen eine autoritäre Gruppenstruktur mit einem ausgeklügelten System der Kontrolle der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft.

 

Der christliche Fundamentalismus ist – wie alle religiösen Fundamentalismen – zutiefst patriarchalisch

Alle Spielarten des Fundamentalismus stimmen darin überein, dass die patriarchale Familie und die komplementären und hierarchischen Geschlechterrollen von Mann und Frau die von Gott und der göttlichen Schöpfungsordnung vorgegebene Sozialordnung darstellen. Fundamentalisten vertreten einen hierarchischen Geschlechterdualismus, nach dem Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich sind und verschiedene Rollen und Aufgaben innehaben. Die von Gott gegebene oder natürliche Sphäre der Frau ist die häusliche, private, die des Mannes die ausserhäusliche, öffentliche und politische. Die Frau ist dem Mann untergeordnet und hat seine Autorität zu respektieren. Die untergeordnete Rolle der Frau wird in allen Fundamentalismen theologisch als gottgewollt begründet. Wer sich nicht mann- oder fraugerecht verhält, verstösst gegen Gott und die Natur! Ihm/ihr drohen religiöse Verdammnis, Krankheit und Leiden als Strafe Gottes sowie soziale Ächtung und Bestrafung. Die politische Stossrichtung fundamentalistischer Mobilisierung liegt daher darin, die patriarchalen Familie, patriarchale Geschlechterrollen und Sexualmoral sowie patriarchale Autorität zu zementieren (Riesebrodt 117-125).

Obwohl Frauen in vielen fundamentalistischen christlichen Gemeinden die Mehrheit stellen, sind sie von der Kirchenführung und dem religiösen Diskurs ausgeschlossen. Auch die Auslegung der Heiligen Schriften liegt allein in den Händen der Männer. Begründet wird der Ausschluss der Frauen vom religiösen Leitungs-, Predigt- und Lehramt mit der wörtlichen Auslegung von Bibelstellen, nach denen Frauen in der Gemeinde nicht das Wort ergreifen sollen (1 Kor 14,34f.). Selektiv werden bestimmte Bibelstellen ausgewählt, die Frauen den Männern unterordnen und sie aus religiösen Leitungsfunktionen ausschliessen, während alle anderen Bibelstellen, die von egalitären Geschlechterbeziehungen in der urchristlichen Bewegung und von der aktiven Rolle von Frauen als Jüngerinnen, Apostelinnen, Missionarinnen und Gemeindeleiterinnen berichten, ignoriert werden.

 

Der Frauenkörper ist zentraler Schauplatz fundamentalistischer Ideologie und Praxis

Da die patriarchale Familien- und Geschlechterordnung die Grundlage fundamentalistischer Sozialordnung bildet, ist die Beschäftigung mit Fragen der Geschlechterordnung und Sexualmoral im fundamentalistischen Diskurs zentral! Krisenerfahrungen der Moderne werden nicht etwa an den Auswüchsen des Kapitalismus festgemacht, sondern an Phänomenen wie der Emanzipation der Frau, der Auflösung patriarchaler Familienstrukturen, der sexuellen Revolution und dem moralischen Niedergang der Gesellschaft. Das durchgehende Thema fundamentalistischer Gesellschaftskritik ist der Abfall vom Glauben bzw. der moralische Verfall. Da Frauen als die Quelle dieser Unmoral gelten, wird die Bewältigung der Krisen weitgehend über den Körper der Frau ausgetragen: über die Kontrolle des weiblichen Körpers, seiner Sexualität und reproduktiven Macht (Riesebrodt 121). In diesem Zusammenhang ist auch die Abtreibungsfrage weniger eine Frage des Schutzes des Lebens, sondern hat vielmehr mit der gesetzlichen Regulierung der Sozial- und Sexualmoral zu tun, wie der Fundamentalismusforscher Martin Riesebrodt meint (Riesebrodt 122).

Themen wie die Keuschheit der Frau, die Reinheit des weiblichen Körpers sowie seine "satanische" Verführungs- und Zerstörungskraft sind von überragender Bedeutung für die fundamentalistische Theologie und Praxis. Der weibliche Körper muss züchtig bedeckt sein, damit er nicht die männlichen Leidenschaften erregt, und Sexualität ist nur in der Ehe erlaubt. In den USA veranstalten fundamentalistische Kreise seit einigen Jahren Keuschheitsbälle, wo Väter geloben, die Reinheit ihrer Töchter zu schützen, und die Töchter Keuschheit vor der Ehe geloben.

Hinter dieser obsessiven Beschäftigung mit der Reinheit und Keuschheit der Frauen steht der Mythos von Eva als Agentin des Satans, die den Mann zur Sünde verführt (hat), wie es in der christlichen Auslegung der Sündenfallgeschichte heisst. Wobei die Verführung als eine sexuelle interpretiert wird. Der weibliche Körper und seine verführerische Macht über Männer stellen für das fundamentalistische Denken die wirkungsvollste Waffe Satans dar. Die Sicht der Frau als Verkörperung der sündigen Sexualität, als jene, die die Sünde in die Welt gebracht hat und den Mann immer wieder neu zur Sünde verführt, ist allerdings keine Erfindung der Fundamentalisten. Sie hat in der christlichen und vor allem der römisch-katholischen Theologie eine jahrhundertelange Tradition und ist auch heute noch keineswegs ganz überwunden!

Das Gegenbild zur verführerischen Eva stellt die züchtige Mutter und Hausfrau dar, die für Heim und Herd zuständig ist und die Kinder zu frommen Menschen erzieht. Die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau sind komplementär aufeinander bezogen, aber keine ist in den Augen der Fundamentalisten privilegiert, da beide zu der von Gott gewollten Ordnung beitragen. Ein Gleichheitsdenken, wie es in den modernen Gesellschaften gefordert wird, ist aus fundamentalistischer Sicht absurd.

Fazit: Eine patriarchale Sozial- und Sexualmoral, die den Körper der Frau kontrolliert, männliche Autorität und eine hierarchisch-dualistische Geschlechterordnung sind zentrale Bestandteile fundamentalistischer Ideologie.

 

Auch Frauen wirken aktiv in fundamentalistischen Bewegungen mit und sind nicht nur Opfer fundamentalistischer Sozialkontrolle

Frauen sind zwar nicht diejenigen, die die Entscheidungen treffen, doch bei der Aufrechterhaltung der Infrastruktur und Organisation, beim Missionieren und den vielfältigen Gemeindediensten sind sie entscheidend! In den USA spielen Frauen bei der Propagierung patriarchaler Familien- und Geschlechterordnungen und einer rigiden Sexualmoral eine aktive Rolle. Sie haben zum Teil eigene Frauenorganisationen gegründet und treten prominent ins Licht der Öffentlichkeit. Für säkulare Emanzipationsvorstellungen ist dies ein Paradox, da sich Frauen für etwas engagieren, das ihre eigene Unterdrückung beinhaltet. Das zweite Paradox: Der Fundamentalismus beschränkt die von Gott und der Natur vorgegebene Rolle der Frau auf den häuslichen Bereich. Gleichzeitig aber mobilisiert er die Frauen politisch und bringt sie dabei in die Öffentlichkeit, in die Sphäre des Mannes, transformiert also teilweise den patriarchalen Traditionalismus und nimmt gewisse Züge der Moderne auf.

Doch was bringt Frauen dazu, sich in fundamentalistischen Gruppen und damit für patriarchale Werte und Strukturen zu engagieren? Verschiedene Studien haben sich mit dieser Frage befasst und ich kann hier nur ganz knapp ein paar Gründe skizzieren, die in der Realität komplex und vielschichtig sind (vgl. zum Folgenden Riesebrodt 131-137):

1. Für viele fundamentalistische Frauen ist die patriarchale Familie mit ihrer Arbeitsteilung eine selbstverständliche und von Gott gebotene Ordnung, die einen absoluten Wert darstellt – wobei die öffentliche Abwertung der traditionellen Frauenrolle zu dieser Haltung beitragen mag.

2. Andere Frauen fühlen sich zum Fundamentalismus hingezogen, weil sie dem gesellschaftlichen Machismo und seinen zerstörerischen Folgen entkommen und ihre Familien sozial und ökonomisch überlebensfähig machen wollen. Bei diesen Frauen handelt es sich häufig um Neubekehrte, die sich dem charismatischen Fundamentalismus, d.h. pfingstlerischen Gemeinden anschliessen. Dieses Phänomen ist vor allem in Lateinamerika, Afrika und Asien zu beobachten, wo Pfingstgemeinden rasant zunehmen und ganz besonders Frauen anziehen. In diesen Pfingstgemeinden finden speziell Frauen der Unterschicht die Möglichkeit, sich zu organisieren, patriarchale Familienstrukturen in ihrem eigenen Interesse umzuformen und ihre Partner über die Religion zu resozialisieren, d.h. sie vom Alkoholkonsum oder Glücksspiel abzubringen, sie als Familienväter zur Treue und zur partnerschaftlichen Verantwortung zu erziehen. Attraktiv ist der charismatische Fundamentalismus für viele Frauen auch deshalb, weil sie hier eine aktive Rolle spielen können und oft auch Zugang zu Führungspositionen haben. Denn in diesen Gemeinden sind Geisterfahrung und charismatische Gaben und nicht das Geschlecht zentral.

3. Eine dritte Gruppe von Frauen, die sich dem Fundamentalismus anschliessen, sind sog. "moderne" Frauen der Mittelschicht, die sich aus der modernen Gesellschaft in patriarchale Strukturen zurückziehen. Als Gründe werden meist Partnerschaftsprobleme, Unvereinbarkeit von Beruf und Familie oder eine bewusste Abkehr von dem als sinnlos und oberflächlich empfundenen modernen Leben genannt.

Wohin diese Entwicklungen führen ist ungewiss. Denn die politische Mobilisierung fundamentalistischer Frauen, die ihnen die Erfahrung des öffentlichen Auftretens vermittelt, der zunehmende Zugang zu höherer Bildung und Berufsarbeit, besonders aber die Aneignung religiöser Kompetenz hinterlässt auch im fundamentalistischen Lager Spuren. Faktisch sind auch bei ihnen berufstätige Frauen weit verbreitet. So ist nicht auszuschliessen, dass die politische Mobilisierung von Frauen eine Eigendynamik entwickelt, die den radikalen Patriarchalismus der Fundamentalisten in eine etwas moderatere und partnerschaftlichere Form transformiert, wie Martin Riesebrodt meint (Riesebrodt 137).

Ich hoffe, dass ich mit meinen Ausführungen etwas zur Klärung des Phänomens des christlichen Fundamentalismus beitragen konnte. Sein Weltbild und seine Ziele zu verstehen ist ja Voraussetzung dafür, frauenpolitische Strategien zu entwickeln, um ihm entgegenzuwirken. Dazu zum Schluss noch ein paar kurze Bemerkungen.

 

Nötig ist eine gemeinsame Strategie von religiösen und säkularen Feministinnen gegen Fundamentalisten jeder Couleur

Die wachsenden fundamentalistischen Tendenzen in allen Religionen stellen besonders für die Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen eine grosse Gefahr dar. Wer für Frauenrechte eintritt, muss sich gegen Fundamentalismus einsetzen – in welchem religiösen Gewand auch immer er daherkommt. Frauenrechtspolitik ist ein zentrales Element einer Anti-Fundamentalismus-Strategie. Aber diese Strategie ist eben keine Anti-Islam-Strategie, wie sie heute oftmals auch von einzelnen Feministinnen vertreten wird. Es braucht vielmehr eine internationale Frauenpolitik, die den Missbrauch von Religion zur Durchsetzung patriarchaler Macht durch Fundamentalisten aller Religionen anprangert und sich nicht spalten lässt!

Nötig wäre deshalb mehr Dialog und Austausch: zwischen Frauen verschiedener Religionsgemeinschaften über ihre Erfahrungen mit den Fundamentalisten in ihren eigenen Reihen und ihre Gegenstrategien; aber auch Austausch und Dialog zwischen säkularen Frauenrechtlerinnen und religiösen Frauen, die sich in ihren Religionsgemeinschaften für die Transformation patriarchaler Traditionen und Strukturen einsetzen. Säkulare Feministinnen müssten sich dazu allerdings der Erkenntnis öffnen, dass Religion nicht per se gleichzusetzen ist mit Fundamentalismus, Frauendiskriminierung und Unaufgeklärtheit, dass also Frauenrechte und Religion durchaus vereinbar sind – und dass es das gemeinsame Engagement säkularer und religiöser Frauen braucht, um Frauenrechte in unserer Welt durchzusetzen und vor Fundamentalisten jeder Couleur zu schützen.

 

Doris Strahm

 

Literatur

Karen Armstrong: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München 2007.

Asian-Pacific Resource & Research Centre for Women (ARROW) (ed.): Keeping the Faith: Overcoming Religious Fundamentalism, Vol. 14, Nos. 1 & 2, 2008.

Franziska Brantner: Die internationale Frauenbewegung zwischen Fundamentalismus und Feminismus – Akteurinnen, Positionen, Perspektiven, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Zwischen Fundamentalismus und Feminismus. Wohin geht die Frauenbewegung, Webfassung 2006, S. 6-10; http://library.fes.de/pdf-files/iez/04355.pdf

Olivier Favre / Jörg Stolz, Die Evangelikalen: Überzeugte Christen in einer zunehmend säkularisierten Welt, in: Martin Baumann / Jörg Stolz (Hg.), Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Bielefeld 2007, 128-144.

Interreligiöser Think-Tank: Weibliche Freiheit und Religion sind vereinbar. Manifest für eine differenziertere Debatte um Religion und Frauenrechte, http://www.interrelthinktank.ch/archivos/ITT-Manifest-18-01-11.pdf

Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen", München 2000.

 

 

© Doris Strahm 2013